Jochen Schneider wurde 1976 in Stühlingen unweit der Schweizer Grenze geboren und wuchs in Obermettingen im Schwarzwald auf. Fortan sollte ihn sein Weg der künstlerischen Aus- und Weiterbildung gen Norden führen:
An der Burg Giebichenstein in Halle an der Saale studierte er ab 1997 bis zum Ersten Staatsexamen Kunsterziehung bevor er dem inneren Drang folgte, nicht Pädagoge sondern eben Bildender Künstler zu werden. Einem entsprechenden Aufbaustudium in Halle ab 2004 schloss sich zwei Jahre später das Studium an der Hochschule für Künste Bremen an, wo er 2008 Meisterschüler bei Paco Knöller wurde. Seit 2009 ist Jochen Schneider freischaffend in Berlin tätig.

Ein erstes Stipendium in Finnland 2010 weckte eine innere Geneigtheit für das Nordische. Er sagt selbst, dieser lebensweltliche Minimalismus – beispielhaft in karger Vegetation, zurückgenommenem Temperament der Bevölkerung und eher nüchternem Design – habe ihn für sich eingenommen. Vertieft durch weitere Arbeitsaufenthalte 2012 auf Island und 2013 wiederum in Finnland findet die ästhetische Erfahrung dieses Minimalismus‘ zunehmend bildnerische Resonanz in Schneiders Werken.
Während die früheren Arbeiten ihren Reiz im Spannungsfeld aus autonomen und Flächen formenden Linien im Spiel von mannigfachen Strukturen entfalten, verdichten sich nun gebündelte Schraffuren zu globaleren geometrischen und organischen Schichtungen.

Ausgangspunkt für die Bildfindungen ist stets das reale Erlebnis, die Dinge müssen Jochen Schneider berühren, um für ihn darstellungswürdig zu sein. Doch entstehen die Arbeiten weniger unmittelbar als mit unterschiedlich langer Verzögerung zwischen Eindruck vor Ort und eigentlicher Umsetzung im Atelier, denn der Künstler generiert seine Bildmotive hauptsächlich aus seinen Erinnerungen.
Die entstehenden Zeichnungen sind nun aber weder bloße Illustration noch Narration eines persönlichen Erlebnisses, sondern widerspiegeln eine innere oder äußerliche Abstraktion: Als Symbol zeugt der Baumstumpf sowohl von der Bedeutung der Holzindustrie in Finnland als auch damit einhergehend von der bizarren Schönheit einer gerodeten Nationallandschaft, in der Moosteppiche die versehrten Relikte besänftigend überwuchern.

Eine formalästhetische Reduktion findet sich in den großen Arbeiten aus diesem Jahr:
Bündel von stoisch gesetzten Schraffuren bilden Felder unterschiedlicher Grauabstufungen, so dass bei den Arbeiten im Querformat der Eindruck von gefalteten Flächen mit textiler Anmutung entsteht. Das hier zugrunde liegende Erinnerungsbild des Künstlers ist das Muster eines bestimmten Vorhangs aus Kindertagen in Obermettingen.
Die beiden Zeichnungen erscheinen auf den ersten, oberflächlichen Blick nahezu identisch. Die genauere Betrachtung offenbart die kleinen Unterschiede und so fungiert das Paar als Bildmetapher für Fluktuationen im Erinnerungsprozess:
Das gleiche Ereignis kann immer mit gewissen Abweichungen nacherlebt werden, je nach dem in welchem Kontext man es sich ins Gedächtnis ruft.
Bei den Arbeiten im Hochformat löst sich die kompakte Schraffur in Verbänden einzeln gesetzter Striche auf, was den Weg für ein visuelles Spiel mit Überlagerung und Transparenz ebnet – die an sich mächtigen Formen wirken zart und leicht. – Die Werke entstanden nach dem Besuch des Schmetterlingshauses auf der Insel Mainau.
Auch hier erlangt die Verbildlichung eines Erlebnisses durch Reduktion überindividuelle Bedeutsamkeit, wobei der gewählte Abstraktionsgrad keine rationalen Zeichen hervorbringt, sondern Raum für sinnliche Vorstellungen jenseits bloßer Visualisierungen lässt.

Ebenso spielt diese Sinnlichkeit für Jochen Schneider eine wesentliche Rolle bei der Wahl des Zeichenmittels: Er entschied sich bewusst gegen die kratzige Feder und den stummen Pinsel. Graphit mit seinen unterschiedlichen Härte- beziehungsweise Weichheitsgraden eröffnet ein Geräuschpanorama, in dem sogar die Erinnerung an das Schlüpfen von Schmetterlingen wach gerufen werden kann.

Jochen Schneider hat seine Werke nicht mit Titeln versehen, was den Betrachter zur freien Assoziation gleichsam zwingt und befähigt. Ich lade Sie herzlich dazu ein.

Franka Häßner