Eröffnungsrede von Friedrich-Wilhelm Junge (11. Mai 2014)

Es war einmal ein Theaterclub, er befand sich im Keller unter dem Interhotel (für alle Neudresdner: so hieß das damals) Gewandhaus. Dieser Keller war ein Unikum.
Schon immer interessierten mich auch die Künste, die nicht zwangsläufig mit dem Theater zu tun haben; andererseits aber ist ja gerade das Theater ein Ort des konstruktiven Zusammenspiels von Sprache, bildender Kunst (auch Architektur), Musik und Tanz.
Mein Plan war, einen gastfreundlichen Ort für einen interdisziplinären Gedankenaustausch zu gegenseitiger Beflügelung zu schaffen. Und das Ende der 60er Jahre in der DDR! Insbesondere war es der von uns allen so verehrte Fritz Löffler, der mich nachdrücklich ermunterte, so einen Ort für eine Begegnung der Künste und Künstler zu schaffen.
Ohne der Verführung zu unterliegen, all‘ die kuriosen Begebenheiten und Anekdoten zu erzählen, die mit der Einrichtung dieser Enklave verbunden waren – kurz: ab Ende der 60er Jahre gab es den Theaterclub, exklusiv für Künstler mit Eintrittsgenehmigung. Bekanntschaften mit Fritz Löffler, Bernhard Kretzschmar, Diether Schmidt, Werner Schmidt, Helmut Heinze und Joachim Heuer schärften meinen Blick für das Bildkünstlerische, so daß es im Theaterclub von Anfang an – bis zum Stasi-bedingten Ende – pro Jahr drei bis vier Ausstellungen gab, natürlich – wie konnte es anders sein – auch mit Werken von Herta und Jürgen Günther. Die Vorbereitung und Einrichtung einer Ausstellung führt zu einem engen und intensiven Gedankenaustausch zwischen Künstler und Ausstellungsmacher. Wenn ich heute hier zwischen den Werken von Herta Günther stehe, so ist mir zumute, als käme ich nach Hause. Gleichzeitig ist es aber auch eine Reise in die Vergangenheit, es sind in diesem Falle die guten Geister des DDR-Gestern, die mich umgeben und wieder lebendig werden.

Es hieße ja Eulen nach Athen tragen, wollte ich hier erklären, wer Herta Günther ist und welche Bedeutung ihre Arbeiten haben. Als die Künstlerin mich bat, hier ein paar Worte zu reden, war ihr klar, daß die Bitte keinem sach- und fachgerechten Kunstwissenschaftler galt. Mich lockte die Chance, ein wenig über unsere gemeinsamen guten Geister der Vergangenheit nachzudenken.

Ich möchte ein Dresdner Phänomen ins Gedächtnis rufen. In diesem sogenannten Tal der Ahnungslosen, ohne Westfernsehen, ohne Werbeverlockungen, auch ohne Diktum „alles ist erlaubt“, hier lebten und wirkten noch bürgerlich-humanistisch geprägte Persönlichkeiten, die uns Lehrer und Erzieher waren, die uns beauftragten, Widerstand zu leisten gegen eine parteipolitisch organisierte Proletarisierung. Für derartige Diskurse bedurfte es allerdings des geschützten häuslichen Raumes. Die intensiven DDR-kritischen Gespräche fanden in privaten Refugien statt, d.h. stasifrei, abhörgesichert. Da sind die Treffen mit Herta und Jürgen Günther in ihrem Atelier und in unserer Wohnung Schevenstraße eine beglückende Erinnerung.

Ja, ich wage es so pathetisch zu sagen: wir machten uns gegenseitig Mut, wir waren füreinander Lebenselixier, um der parteipolitisch indoktrinierten Verprollung zu widerstehen. Immer und immer wieder ermahnten uns die guten Geister Löffler und die beiden Schmidts, die Stafette freier humanistischer Geistigkeit zu bewahren und zu pflegen für eine Zeit, die nach der DDR doch einmal kommen müsse. Werte, in die wir ohne eigene Leistung glückhaft hineingeboren wurden, sollten uns Verpflichtung sein, mit diesem Geschenk verantwortlich umzugehen, als Konservatoren für eine Zeit nach der DDR. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, bedurfte es keines öffentlich zur Schau getragenen Protestes. Es war ein scheinbar passives, subversives Verweigern jeglicher Mitläuferei und Mitmacherei.

Herta Günthers Arbeiten sind keine Protest-Revolten, aber auf geradezu programmatische Weise Dokumente für die Behauptung von Menschenwürde. Der melancholische Zauber der Landschaften, die Verlorenheit von Gestalten im Raum, die so kräftige Behauptung von individueller Weiblichkeit entzog und entzieht sich jeder ideologischen Vereinnahmung.

Summa summarum: stellvertretend für all‘ die Konservatoren – und zwar in allen Lebens- und Schaffensbereichen, ob Künstler, Wissenschaftler, Lehrer etc. – für all‘ diejenigen, die in stiller, aber unermüdlicher Unaufgeregtheit Lebens- und Liebenswertes bewahrten und pflegten, an dieser Stelle Dank an Herta Günther für einen ehrenwerten Beitrag zur Implosion des real existierenden Sozialismus.

Was unser Geist der Wirrnis abgewinnt,
kommt irgendwann Lebendigem zugute;
wenn es auch manchmal nur Gedanken sind,
sie lösen sich in jenem Blute,
das weiterrinnt…

Und ist’s Gefühl: wer weiß, wieweit es reicht
und was es in dem reinen Raum ergibt,
in dem ein kleines Mehr von schwer und leicht
Welten bewegt und einen Stern verschiebt.

Rainer Maria Rilke